Die Judenverfolgung der Nationalsozialisten
Die Reichspogromnacht
Am 9. November 1938 gab es den nächsten tiefen Einschnitt. Bis jetzt wurde den Juden durch Verordnungen und Gesetze das Leben schwer gemacht. Nun folgte ein Akt brachialer Gewalt.
Der Anlass: Der 17-jährige Jude Herschel Grünspan verübte in Paris einen tödlichen Anschlag auf einen deutschen Diplomaten. Damit wollte Grünspan gegen die Abschiebung 17000 polnisch-stämmiger Juden aus dem Deutschen Reich protestieren.
Die Vorgeschichte: Die gleichgeschaltete Presse hatte die Stimmung gegen Juden in der Zeit vor dem Anschlag durch eine Kampagne massiv aufgeheizt. Schon am Vortag, dem 8. November, hatte es Ausschreitungen gegen Synagogen und jüdische Geschäfte gegeben.
Der Aufruf: Das Attentat nahm Goebbels nun zum Anlass, „Vergeltung“ zu fordern. Die Propaganda-Ämter gaben den Vergeltungs-Aufruf weiter „nach unten“ an die Kreis- und Ortsgruppenleitungen und an die SA-Stäbe durch. Diese Aufforderung hatte Goebbels mit Hitler abgesprochen.
Die Aktion: Alle Nationalsozialisten verstanden die Aufforderung. Wenige Stunden später brannten die Synagogen, jüdischen Geschäfte und Restaurants im ganzen Land. Juden wurden in ihren Wohnungen aufgesucht und mussten zusehen, wie alles kurz und kleingeschlagen wurde. Außerdem wurden die Wohnungsbesitzer gedemütigt und misshandelt.
Doch die Gewalt ging nicht nur von SA-Männern aus. Schaulustige liefen auf die Straßen, um zu sehen, was dort passierte. Viele "Normal-Bürger" beteiligten sich nun spontan an den Angriffen und Zerstörungen. Später rechtfertigte die Regierung die Ereignisse dieser Nacht als die spontane Entladung des Volkszornes.
Ein zerstörtes Geschäft
Eine zerstörte Synagoge
In Bremen waren die Ausschreitungen besonders schlimm. Die Familie Bialystock erlebte dramatische Stunden, nach denen sich für sie alles ändern sollte...
Heinrich Bialystock lebt mit seiner Frau Franja in Bremen. Er betreibt in bester Lage, in Bremen-Mitte ein Herrenbekleidungsgeschäft. Gleich nebenan eröffnet bald eine Filiale der Warenhauskette C&A. Im Jahr 1923 wird der Sohn Martin geboren, 1929 folgt die Tochter Miriam.
Heinrich steckt viele Jahre lang seine ganze Kraft ins Geschäft. Es lohnt sich: Der Laden läuft sehr gut. Im Jahr 1930 muss sich Heinrich einer Polizeikontrolle unterziehen. Im Bericht wird Heinrich eine einwandfreie Geschäftsführung nachgewiesen. Der Wert seines Kaufhauses wird auf 95000 Reichsmark festgesetzt.
Im Polizeibericht heißt es außerdem, Heinrich hätte einen ordentlichen Lebenswandel, wäre fleißig, strebsam und solide.
Der Familie geht es finanziell sehr gut, doch sie stehen vor großen Problemen. Denn sie sind Juden. Viele Verwandte sind schon nach Holland ausgewandert. Heinrichs Sohn Martin sagt heute: „Uns ging es in Bremen so gut, dass Vater nicht sehen wollte, wie sich die Zeit entwickelt.“
In Bremen leben zu dieser Zeit nur sehr wenige Juden (1314), denn es gibt hier keine lange jüdische Tradition. Erst 1896 trat der erste Rabbiner sein Amt in Bremen an.
Martin ist der einzige jüdische Schüler in seiner Klasse. Er muss in der letzten Reihe sitzen. Manche Mitschüler kommen in der Uniform der Hitler-Jugend zum Unterricht. Viele Freunde brechen den Kontakt zu Martin ab. Der Sportlehrer teilt Martin mit, dass er nicht mehr in der Schulmannschaft Fußball spielen darf. Martin sagt: „Ich wusste, er hat es gegen seinen Willen gesagt, aber er hat es gesagt.“ Der Lehrer redet Martin nun nur noch mit dem Nachnamen an.
Zuhause erzählt der Junge nichts von den Schikanen und Prügeln, die er fast täglich bezieht. Trotzdem merken die Eltern, dass ihr Sohn leidet. Sie schicken ihn auf eine jüdische Schule. Doch dort ändert sich wenig. Martin möchte am liebsten im Boden versinken, wenn die SA in Kolonnen durch Bremen marschiert und singt: „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt.“
Martins Schulzeugnisse sind schlecht. Er kann sich nicht mehr aufs Lernen konzentrieren, so sehr sich die Eltern auch bemühen, alle Sorgen von den Kindern fernzuhalten.
1936 wird Martins Vater Heinrich zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, wegen „unerlaubten Verkaufs von parteiamtlichen Uniformen“. Im Laden wurden kurze schwarze Hosen verkauft, die angeblich Teile der Uniform der Hitler-Jugend waren.
Mit 15 Jahren verlässt Martin die Schule. Im gleichen Jahr kommt sein Vater ins Konzentrationslager Sachsenhausen in „Schutzhaft“. Schutzhaft bedeutete, dass man die Gesellschaft vor den Festgenommenen schützen müsse. Man musste kein Verbrechen begangen haben, sondern nur irgendwie eine Bedrohung darstellen. Polizisten durften die Schutzhaft auch ohne richterlichen Beschluss über einen Menschen verhängen. Die Dauer der Schutzhaft war nicht festgelegt.
Heinrichs Frau Franja schafft es mit Hilfe eines Rechtsanwaltes, ihren Mann wieder freizubekommen. Allerdings unter einer Bedingung: Dass er Deutschland innerhalb von 48 Stunden verlässt.
Heinrich begibt sich nach Holland, wo schon viele Verwandte leben. Auch Franja und die Kinder wollen so schnell wie möglich raus aus Deutschland. Langfristig plant die Familie, in die USA auszuwandern, wo auch ein Verwandter lebt. Aber Deutschland lässt die Juden nicht so einfach gehen. Sie müssen ihre Ausreise teuer bezahlen - in Form einer „Reichsfluchtsteuer“. Franja verkauft alle Wertgegenstände und beginnt, das Haus aufzulösen. Allerdings muss an der Ladentür ein großes gelbes Schild hängen: „Jüdisches Geschäft“. Martin hat das Schild im Polizeipräsidium abgeholt.
Das Problem ist: Seitdem das Schild an der Tür hängt, traut sich kein Kunde mehr in den Laden. Trotz niedriger Preise bleibt Franja also auf ihren Waren sitzen. Im Lager liegt Ware im Wert von 57 000 Reichsmark.
Franja ist verzweifelt. Schließlich zeigt sich die Modekette C&A bereit, ihr das Haus abzukaufen, um die C&A-Filiale nebenan zu vergrößern. Das Angebot liegt 25% unter Franjas Vorstellung. Sie unterzeichnet den Kaufvertrag. Ihre Bitte, bis zur Abreise mietfrei in ihrer Wohnung bleiben zu dürfen, lehnt C&A ab. Franja muss jetzt Miete zahlen.
Die Lage für die Juden in Deutschland verschlimmert sich rasant. Die NSDAP organisiert in allen deutschen Städten Gewaltaktionen gegen Juden. Die Aktionen werden aber nicht konkret angeordnet, sondern dem Volk wird indirekt "nahegelegt", der Wut auf das Judentum doch mal freien Lauf zu lassen.
Deutschlandweit führt das zu Gewaltexzessen gegen jüdische Geschäfte, Restaurants, Synagogen und Privatwohnungen. Auch Schüler nehmen an den nächtlichen Aktionen teil, oft begleitet von ihren Lehrern. Am nächsten Tag gibt es schulfrei.
In Bremen sind die Ausschreitungen besonders schlimm. Geschäfte und Restaurants werden kurz und klein geschlagen. In den Trümmerlandschaften werden Plakate aufgestellt: "Vernichtet das Judentum".
In der ersten Nacht bleibt die Familie Bialystock verschont. Doch in der Nacht vom 8. auf den 9. November geht es weiter. Um zwei Uhr nachts werden Franja, Martin und Miriam von klirrenden Schaufensterscheiben aufgeweckt. Die Kinder sollen sich anziehen. Schweigend sitzen sie im Salon, während unten Schläge auf das Eingangsgitter des Hauses niedergehen. Die drei warten auf Schritte im Haus und haben Todesangst.
Währenddessen wird in München der Befehl erlassen, so viele jüdische Männer in Bremen zu verhaften, wie man in den KZs unterbringen kann. Vor allem aber die vermögenden Juden. Schnell wird eine Liste mit den Adressen aller jüdischen Bewohner Bremens zusammengestellt. Es sind noch 900. Sie werden von bewaffneten SA-Männern aus ihren Wohnungen gezerrt. Um ihre Flucht zu verhindern, werden Straßensperren errichtet und Fahrzeugkontrollen durchgeführt. Die Festgenommenen werden auf Lastwagen zu Sammelstellen gekarrt. Frauen, Kranke und Alte dürfen wieder gehen, 162 Männer bleiben in Haft.
Gegen 7 Uhr wagt sich Franja mit ihren Kindern raus auf die Straße und steht vor den Trümmern ihres geplünderten Geschäftes. Das Warenlager wurde beschlagnahmt, die Kasse geleert, eine Schreibmaschine, ein Fahrrad und Kontoauszüge fehlen. Die vorbeilaufenden Menschen sprechen mit den Bialystocks kein Wort. Franja und die Kinder sind nicht geschockt über die Verwüstung. Später sagt Martin: „Wir haben um unser Leben gebangt, da ist alles andere wurscht. Die Erde hat langsam angefangen zu brennen für uns.“
Franja schafft es, mit den Kindern zu Verwandten zu fliehen. Martin, dem am ehesten die Verhaftung droht, wird auf dem Dachboden versteckt. Draußen gerät die Situation außer Kontrolle. Über das Radio fordert die Regierung jetzt dazu auf, alle Aktionen gegen das Judentum zu beenden.
Am nächsten Abend stehen SA-Männer vor der Tür der Bekannten, bei denen Franja mit den Kindern untergekommen ist und fragen nach ihr. Wie die Beamten das Versteck erfahren haben, bleibt ungewiss. Jedenfalls wird Franja über die Zerstörung ihres Geschäfts informiert. Um wieder Ordnung im Straßenbild herzustellen, möchte sie doch bitte die zertrümmerten Fensterscheiben mit Holz verschlagen, auf eigene Rechnung selbstverständlich, und zwar sofort.
Die Bilanz der zwei Reichspogromnächte: deutschlandweit werden über 100 Menschen ermordet, 8000 jüdische Geschäfte zerstört, 1400 Synagogen und Gebetsstuben angezündet oder verwüstet. 30756 jüdische Männer werden in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen gebracht, mehr als 1000 werden dort sterben. Viele Juden begehen im Angesicht der Zerstörungswut
Selbstmord. Sie drehen in ihren Wohnungen den Gashahn auf, springen aus dem Fenster oder töten sich mit der Überdosis eines Schlafmittels.
Franja steht an einem Januartag im Jahr 1939 mit ihren Kindern auf einem Feld im deutsch-holländischen Grenzgebiet. Ohne Gepäck und ohne Papiere sollen wenigstens Martin und Miriam Deutschland verlassen. Franja bleibt in Deutschland, sie muss die Auflösung von Geschäft, Lager und Wohnung abschließen. Die Kinder machen sich auf den illegalen Weg über die Grenze nach Holland.
Währenddessen kauft Franja 4 Schiffstickets nach New York. Den Hausrat verschickt sie per Schiff dorthin. Sie überweist 40000 Reichsmark nach Antwerpen, von denen aber 94% vom Deutschen Reich als „Reichsfluchtsteuer“ einbehalten werden. Danach rettet Franja sich nach Belgien zu ihrem Mann. Dorthin schleust Martin auch seine Schwester, so dass drei der vier Bialystocks wieder vereint sind. Martin selbst bleibt in Holland. Ein halbes Jahr später beginnt der Krieg.
1941 werden Auswanderungen komplett verboten. Juden werden nun in Ghettos zusammengepfercht. Die Judenvernichtung wird nun in allen vom Deutschen Reich eroberten Gebieten vollzogen. Alles noch in Deutschland befindliche jüdische Vermögen geht automatisch an den Staat. Dadurch wird die Kriegskasse aufgebessert. Die letzten Bremer Juden werden ins Ghetto Minsk gebracht. Am Hauptbahnhof müssen sie unterschreiben: „Ich, der unterzeichnende Jude, bestätige hiermit, ein Feind der deutschen Regierung zu sein und als solcher kein Anrecht auf das von mir zurückgelassene Eigentum, auf Möbel, Wertgegenstände, Konten oder Bargeld zu haben.“
Der mittlerweile 17jährige Martin befindet sich zu dieser Zeit in Palästina. Kurz bevor die deutsche Armee in Holland einmarschierte, hat er es geschafft, mit einem der letzten Transporte das Land zu verlassen. Unter falschem Namen kämpft er in Palästina für die britische Armee - zuerst in Libyen, später in Italien.
In Italien erfährt er 1943 aus der Zeitung von den Vernichtungslagern der Deutschen. 1945, als der Krieg zu Ende ist, offenbart sich für die Alliierten das ganze Leid der Vernichtungslager. Sie bringen die wenigen überlebenden Jude in Auffanglager und von dort aus weiter illegal nach Palästina . Auch Martin hilft bei der Verschiffung der Überlebenden. Dabei verliebt er sich in die 22-jährige Rachel, die am linken Unterarm eine tätowierte Nummer trägt. Die beiden verlieben sich und heiraten. Ihre erste Tochter nennen sie Miriam. Erst als Martins Tochter erwachsen ist, wird er erfahren, wie es dem Rest seiner Familie ergangen ist.
Am 1. September 1942 wurden Franja, Heinrich und Miriam, die sich ja in Belgien aufgehalten hatten, in den Waggon 7 eines Zuges verfrachtet – als Nummer 91, 92 und 93 auf der Deportiertenliste. Noch am Tag der Ankunft in Auschwitz wurden alle drei ermordet. Die amerikanischen Behörden hatten sie nicht einreisen lassen, damit war ihr Schicksal besiegelt.
Sein ganzes restliches Leben fragt sich Martin, was er hätte anders und besser machen müssen, um seine Familie zu retten. In den ersten Jahren schließt er sich, wenn ihn die Erinnerungen überfallen, mit seinem Akkordeon in einem Zimmer ein, spielt und weint.
Die Holzkiste mit den Resten des Bremer Lebens, die die Mutter nach Amerika geschickt hatte, gelangt nach dem Krieg über Umwege zu Martin.Darin die Arbeitszeugnisse der Mutter, die Geburtsurkunde des Vaters, die Hochzeitseinladung der Eltern, Porträtfotos in Schwarz und Weiß. Die Mutter mit ernstem, geradem Gesicht, der Vater im Halbprofil mit halbem Lächeln und fernem Blick, Miriam mit pausbäckigem Lachen, gerahmt von dunklen Schleifenzöpfen. Sie fehlen mir, sagt der Sohn und Bruder beim Betrachten der Fotos, mitunter bis auf die Knochen.
Das Ehepaar Rachel und Martin gehen mit dem Erlebten unterschiedlich um. Rachel schweigt über alles, was sie in Auschwitz erlebt hat. Gegenüber ihrem Mann, ihren Kindern und Enkeln. Martin jedoch entscheidet sich, zu reden, weil schlimmer als das Erinnern nur das Vergessen sei.
40 Jahre nach dem Ende des Krieges will er seiner Frau seine Heimatstadt Bremen zeigen. Doch nach wenigen Stunden reisen sie wieder ab. Es war zu traurig, nach Bremen zu kommen, zu niemandem.