Die "Aktion T4"
Hintergrund: Die Rassentheorie
Im 19. Jahrhundert entwickelten Biologen, Mediziner und Psychologen die Rassentheorie. Hintergrund waren Charles Darwins Beobachtungen im Tierreich über verschiedene Tierarten. Die Rassentheoretiker übertrugen diese Erkenntnisse fälschlicherweise auf den Menschen und teilten menschliche Rassen ein. Hierbei stellten sie auch willkürlich Zusammenhänge zwischen körperlichen Merkmalen und Charaktereigenschaften her. So behaupteten sie zum Beispiel, dass man an der Kopfform eines Menschen seine Rasse ablesen könne und man dem Menschen dann auch Charaktereigenschaften zuordnen könne.
Alle Thesen der Rassentheorie gelten heute als überholt und als wissenschaftlich widerlegt.
Die „arische“ Rasse
Den Nationalsozialisten griffen die Behauptungen der Rassentheoretiker auf und bauten sie in ihre Ideologie ein. Sie behaupteten von der Existenz einer „arischen“ Rasse und schrieben dieser Rasse eine hohe körperliche und geistige Qualität zu. Natürlicher Lebensraum dieser arischen Rasse wäre Nordeuropa, einschließlich des Gebiets des Deutschen Reiches. Jedoch wäre es dort in der Vergangenheit immer wieder zu Vermischungen zwischen Ariern und Vertretern anderer Rassen gekommen. Dadurch wäre das hochwertige „Arierblut“ verunreinigt worden. Auch Vertreter des jüdischen Glaubens wurden von den Nationalsozialisten als eigene Rasse eingestuft. Vermischungen mit der „jüdischen Rasse“ würden für die Arier eine besonders große Gefahr darstellen.
Für die Zukunft forderten die Nationalsozialisten
- ein Verbot der Vermischung der arischen Rasse mit Vertretern anderer Rassen, vor allem mit Juden.
- Kinderreichtum bei „reinrassig arischen“ Paaren.
Durch beide Maßnahmen sollte langfristig eine „Aufartung“ oder „Aufnordung“, also eine höhere „Blutreinheit“ erreicht werden.
Der Umgang mit Kranken
Eine Verunreinigung der Rasse würde aber nicht nur durch das Vermischen mit Zugehörigen anderer Völker und Religionen erfolgen, sondern auch durch kranke Menschen und die Weitergabe kranken Erbgutes. Für die Aufwertung der arischen Rasse wäre es wichtig, die Vermehrung von Menschen mit bestimmten Krankheiten zu verhindern.
Alles gipfelte in den Fragen „Mit welchen Krankheiten und Einschränkungen ist das Leben eines Menschen „unwert“? Und wie soll der Staat mit „unwertem“ Leben verfahren?“
Im Jahr 1920 veröffentlichten Karl Binding (Jurist) und der Arzt Alfred Hoche zum Beispiel die Schrift „Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens“, in der sie vorschlugen, „unwertes Leben“ zur Entlastung der Kranken und ihrer Angehörigen zu beenden.
Solche Überlegungen kamen den Nationalsozialisten sehr gelegen, und zwar aus zwei Gründen:
- Erstens würde man durch das Töten genetisch kranker Menschen die Weitergabe kranken Erbgutes verhindern, was der angestrebten „Rasse-Reinheit zugute käme.
- Zweitens war die dauerhafte Unterbringung und Therapie kranker Menschen für den Staat sehr teuer. Patiententötungen würden eine finanzielle Entlastung für die Staatskasse bedeuten.
"Euthanasie"?
Das Töten von Patienten wurde in den Schriften fälschlicherweise als "Euthanasie" bezeichnet. „Euthanasie“ bedeutet „guter, sanfter, friedlicher Tod“. Heute wird der Begriff verwendet, wenn es um Sterbehilfe bei unheilbar Kranken geht. Mit „Euthanasie“ soll ein Mensch in auswegloser gesundheitlicher Lage von seinen Schmerzen befreit werden.
Doch bei den Nationalsozialisten ging es um Tötungen auf staatlichen Beschluss und ohne den Wunsch der Patienten. Deshalb ist der Begriff "Euthanasie" unpassend.
Erste Maßnahmen
Zwischen 1933 und 1939 wurden erste Maßnahmen für die angestrebte Rasse- und Erbgesundheit eingeleitet:
- 14.7.1933: Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verpflichtete Menschen mit vermeintlichen Erbkrankheiten zur Sterilisation. Diese Zwangssterilisation betraf ca. 400 000 Frauen und Männer.
- 26.6.1935: Bei diagnostizierter Erbkrankheit wurde der Schwangerschaftsabbruch vor Ablauf des 6. Monats legalisiert.
- 15.9.1935: Das „Blutschutzgesetz“ verbot außerehelichen Verkehr und Heirat mit einem „fremdrassigen“ Menschen („Rassenschande“).
- 18.10.1935: Das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ verbot die Eheschließung zwischen erbkranken bzw. geistig behinderten Menschen und erbgesunden bzw. nichtbehinderten Menschen.
- Oktober 1939: In der besetzten polnischen Stadt Posen wurde an Psychiatriepatienten eine „Probevergasung“ mit Kohlenstoffmonoxid durchgeführt.
Die Operation „T4“
Doch diese Maßnahmen gingen den Nationalsozialisten nicht weit genug. Im Juli 1939 begannen die Planungen konkreter Maßnahmen zur Vernichtung „unwerten Lebens“.
Als Verantwortlichen für die geplanten Maßnahmen bestimmte Hitler den Chef der Reichskanzlei Philipp Bouhler. Die medizinische Beratung sollte durch den Arzt Karl Brandt erfolgen.
Die geplante Aktion war streng geheim und sollte niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Sie lief unter dem Decknamen "Aktion T4". Das bezog sich auf die Adresse der leitenden Dienststelle am Tiergarten 4 in Berlin.
Der Chef der Reichskanzlei Philipp Bouhler
Der beratende Arzt Dr. Karl Brandt (Aufnahme 1946)
Ein auf den 1. September 1939 datiertes Dokument regelt die zukünftigen Krankentötungen:
„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“
Mit dem Dokument ermächtigt Hitler über die Mittelsmänner Bouhler und Brandt bestimmte Ärzte, unheilbar Kranken den „Gnadentod“ zu gewähren.
Die Meldebögen
Per Runderlass vom 9. Oktober 1939 wurden alle Heil- und Pflegeanstalten aufgefordert, Meldebögen über ihre Patienten zu auszufüllen und dem Gesundheitsministerium zukommen zu lassen. In den Meldebögen sollten Angaben zum Krankheitsbild, zu Genesungsaussichten und zur Arbeitsfähigkeit der Patienten gemacht werden.
Über die Meldebögen sollten später 70 000 Patienten ausgewählt werden, die getötet werden sollten.
In den Anstalten war nicht bekannt, welchen Zweck die Meldebögen hatten. Die Verantwortlichen füllten die Zettel im Glauben aus, das das Ministerium brauche die Angaben für statistische Zwecke oder für die Finanzplanung.
Die Auswertung der Meldebögen
Die ausgefüllten Meldebögen wurden dreifach kopiert und jeweils drei Vorgutachtern vorgelegt. Jeder Vorgutachter notierte auf seiner Kopie ein rotes „+“ für „Töten“ oder ein blaues „-„ für „Weiterleben“. Bei Unsicherheit sollte ein „?“ notiert werden.
Ein „+“ für „Töten“ bekamen diese Patienten:
- Patienten mit psych. Krankheiten wie z.B. Schizophrenie, Encephalitis, Schwachsinn, Paralyse oder seniler Demenz,
- Patienten mit Nervenkrankheiten, z.B. Epilepsie,
- Patienten, die nicht arbeiten konnten oder nur mechanische Arbeiten ausführen konnten,
- Patienten, die schon länger als 5 Jahre in der Anstalt waren,
- kriminelle „Geisteskranke“ und
- Patienten, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen und nicht „deutschen oder artverwandten Blutes“ waren.
Die Kriterien legen nahe, dass es längst nicht mehr um die anfangs angestrebte Rassereinheit bzw. Erbgesundheit ging, sondern um das Ausrotten von „Ballastexistenzen“, die dem Staat nur Geld kosten und ihm nie wieder nützlich sein werden.
Auf der Grundlage der Bewertungskriterien bekamen auch tausende Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg, die wegen amputierter Gliedmaßen oder psychischen Problemen in den Anstalten waren, nun den Todesvermerk.
Alle Eintragungen der einzelnen Gutachter wurden dann von den Kopien auf die Originale übertragen und einem Obergutachter vorgelegt, der die endgültige Entscheidung traf. Weder die Vorgutachter noch der Obergutachter bekamen einen Patienten persönlich zu Gesicht. Alle Gutachter entschieden nur auf der Basis der Meldeformulare, wer getötet wird und wer am Leben bleibt.
Der Ablauf der Tötungen
Nach der Sichtung mehrerer Anstalten wurden sechs Anstalten ausgewählt, die sich für einen Umbau zu Tötungseinrichtungen eigneten: Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar.
In Grafeneck war das Vorgehen wie folgt: Am 12. Oktober 1939 wurde die Anstalt beschlagnahmt, geräumt und umgebaut. Büro- und Personalräume wurden eingerichtet. Außerdem wurde eine in 300 Meter Entfernung befindliche Holzbaracke in einen gasdichten Tötungsraum umfunktioniert. Neben der Holzbaracke wurden drei Krematoriumsöfen installiert. Die Anlage wurde mit einem Bretterzaun vor Blicken geschützt und mit SS-Posten umstellt. Im Januar 1940 nahm die Tötungsanstalt Grafeneck ihren „Betrieb“ auf.
Der Transport zu den Tötungsanstalten
Für die Umlagerung der zu tötenden Patienten wurde die „Gekrat“ (Gemeinnütziger Krankentransport GmbH) gegründet. Sie erstellte Verlegungslisten und setzte die Anstalten über die bevorstehende Umlagerung bestimmter Patienten in Kenntnis. Die Gekrat organisierte dann Bustransfers, bei denen die Tötungsopfer aus allen Anstalten eingesammelt und zu Zwischenanstalten gebracht wurden. In Einzelfällen wurden die Patienten auch angewiesen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Zwischenanstalt zu fahren. Von dort aus wurde jeder Patient drei- bis viermal in Psychiatrien in der Nähe der Tötungsanstalt verlegt. Diese weiteren Verlegungen dienten der Verschleierung des Aufenthaltsortes eines Patienten gegenüber seinen Angehörigen. Außerdem war das Hin- und Herschieben von Patienten nötig, um eine Überfüllung der Tötungsanstalten zu vermeiden.
Der Ablauf der Tötungen
War ein Patient in der Tötungsanstalt angekommen, wurde er in der Aufnahmebaracke entkleidet, gemessen, gewogen, fotografiert und Ärzten vorgeführt. Danach wurde er gemeinsam mit ca. 30 anderen Patienten zur Gaskammer gebracht, die zur Täuschung der Patienten wie ein Duschraum aussah.
Nach Verschließen des scheinbaren Duschraumes wurde Kohlenmonoxid eingelassen. Die Gaszufuhr dauerte ca. 20 Minuten und endete, wenn in der Gaskammer keine menschliche Bewegung mehr festzustellen war. Anschließend wurden die Toten aus den Kammern gezogen und in Krematorien verbrannt. Wenn vorhanden, wurden ihnen vor der Verbrennung Goldkronen aus den Gebissen herausgebrochen und zur Feingoldgewinnung an die zentrale Dienststelle T4 weitergeleitet.
Die Verschleierung
Zu jeder Tötungsanstalt gehörte ein Standesamt. Dieses stellte für jeden Getöteten eine Todesurkunde mit einer erfundenen Krankengeschichte aus und übersandte diese an die Angehörigen.
Zur weiteren Irreführung der Angehörigen wurden die Todesurkunden falsch adressiert: Die Tötungsanstalt Hartheim verwendete zum Beispiel den Briefkopf von Brandenburg und umgekehrt. Dadurch wurden die Trauernden in dem Glauben gelassen, ihr Angehöriger sei in einer weit entfernten Anstalt gestorben.
Das verhinderte persönliche Besuche und Nachforschungen vor Ort. Oft wurden den Angehörigen aus der falschen Anstalt auch die angebliche Urne mit der Asche des Verstorbenen zugeschickt. Dafür wurden den Hinterbliebenen manchmal hohe Kosten in Rechnung gestellt.
Proteste und Widerstand
Trotz aller Verschleierungsversuche verbreiteten sich Gerüchte über die Ereignisse in den Tötungsanstalten. Heimleiter und Heimangestellte wurden misstrauisch, wenn ihre ehemaligen Patienten nach der „Umlagerung“ in Scharen spurlos verschwanden. Auch einige Eltern zweifelten an den Sterbegründen, die ihnen von den Anstalten mitgeteilt wurden.
Von den Vormundschaftsrichtern, die für die Behinderten zuständig waren, lehnte sich ein einziger gegen die Machenschaften in den Tötungsanstalten auf: Der Richter Lothar Kreyssig. Er hatte bemerkt, dass sich die Nachrichten über den Tod seiner Schützlinge auffällig häuften.
In einem Brief beschwerte er sich über den Umgang mit Behinderten und über die Vorgänge in den Konzentrationslagern:
„Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hütern des Rechtes in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen, vollkommen z. B. die Konzentrationslager, vollkommen nun auch die Heil- und Pflegeanstalten.“
Der Justizminister Franz Gürthner antwortete, dass die Euthanasie-Aktion von Hitler persönlich veranlasst wurde und in seiner Verantwortung vom Chef der Reichskanzlei Philipp Bouhler ausgeführt würde.
Daraufhin erstattete Kreyssig gegen Philipp Bouhler Anzeige wegen Mordes. Den Anstalten, für die er zuständig war, untersagte er, ihre Patienten zu verlegen und sich entsprechenden Anweisungen zu widersetzen.
Nun wurde der Richter vom Reichsjustizminister Franz Güthener vorgeladen. Dieser legte Kreyssig das Schreiben Hitlers vor, in der er die „Aktion T4“ anwies. Kreyssigs Reaktion lautete: „Ein Führerwort schafft kein Recht!“ Franz Gürthner antwortete ihm, dass er dann nicht länger Richter sein könne. Kreyssig wurde zwangsbeurlaubt und sollte ins Konzentrationslager gebracht werden, was aber nicht gelang.
Nach zweijährigem Berufsverbot wurde Lothar Kreyssig von Hitler höchstpersönlich in den Ruhestand versetzt.
Auch der Bischof von Galen sprach in seiner Kirche offen von den Patientenmorden und traute sich, offen zu protestieren. In seiner berühmten Rede am 3. August 1941 sagte er:
"Wenn man den unproduktiven Menschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir altersschwach werden!
Dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozess ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben!
Wenn man die unproduktiven Menschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als schwer Kriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren!"
Das Ende der „Aktion T4“
Nach ca. zwei Jahren ordnete Hitler gegenüber Bouhler und Brandt an, die „Aktion T4“ zu beenden, zumindest die Erwachsenen-Euthanasie. Die Kinder-Euthanasie sollte fortgesetzt werden.
Inoffiziell wurden aber auch weiterhin erwachsene Kranke getötet, jedoch erfolgte dies direkt in ihren Anstalten durch Nahrungsentzug oder Medikamentengabe.
Warum Hitler die Aktion abbrach, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich fürchtete er den wachsenden Protest einiger Kirchenvertreter, allen voran den des Bischofs von Galen.
Insgesamt kamen bei der Aktion T4 ca. 70 000 Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten ums Leben.
Informations- und Bildquelle für diese Seite: Wikipedia-Eintrag zur "Aktion T4"