Problem 4
Mit der Industrialisierung setzte eine regelrechte"Landflucht" ein. Tausende Bauernfamilien verließen ihre Dörfer, um in der Stadt Arbeit zu suchen. Sie hofften auf ein besseres Leben und auf ein gutes Einkommen durch die Arbeit in modernen Fabriken. Doch in den Industriezentren war man auf den Massenansturm gar nicht vorbereitet. Schnell standen viel mehr Arbeitskräfte bereit, als man beschäftigen konnte. Dadurch war der Wert der Arbeitskraft niedrig. Viele blieben arbeitslos oder arbeiteten für einen Hungerlohn. Auch der Wohnraum reichte vorn und hinten nicht für die Massen, die in die Städte drängten...
Aus einem Zeitungsbericht (um 1900):
„Wer würde es glauben, dass eine ganze Anzahl Menschen bei uns heutigentags in „Wohnungen“ kampiert, die überhaupt kein heizbares Zimmer haben? Und doch belehrt uns die Statistik, dass es davon in Berlin 15 000 gibt. In den meisten deutschen Großstädten wohnt die Hälfte oder annähernd die Hälfte aller Menschen in Wohnungen, die nicht mehr als ein Zimmer umfassen. Von tausend Bewohnern in Berlin 430, in Breslau 409, in Chemnitz 551, in Dresden 374.
Mehr als 2 Zimmer, darf man annehmen, bewohnt nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der arbeitenden Bevölkerung. „Überbevölkert“ nennt die Statistik eine Wohnung, wenn 6 Personen und mehr in einem Zimmer, 11 Personen und mehr in zwei Zimmern hausen. Und selbst davon gibt es eine beachtliche Anzahl: in Berlin gibt es 30 000 überbevölkerte Wohnungen.
Was das Wohnungselend der ärmeren Bevölkerung, wenigstens in den Großstädten, auf das Höchste steigert, ist der Umstand, dass selbst in den engen Behausungen, die nicht mehr den Namen Wohnung verdienen, noch nicht einmal immer die Familie allein lebt, sondern noch fremde Personen, dazwischen kampieren. Dieser jammervolle Zustand findet sich beispielsweise in Berlin bei 391 von 1000 einzimmrigen Wohnungen. Das Problem besteht nicht nur in Berlin und Umgebung. In München waren von 12 000 Wohnungen 3918 überfüllt im offiziellen Sinne. Nur 858 der Münchener Wohnungen hatten mehr als ein beheizbares Zimmer.“
Leben in der Holzbaracke
In der Nähe der großen Fabriken wurden deshalb Holzbaracken errichtet, in denen die Arbeiterfamilien eng zusammengepfercht untergebracht wurden. Der Traum vom gesicherten Leben in der Stadt zerplatzte für viele wie eine Seifenblase. Stattdessen litten die Menschen unter Hunger und Armut. In den Baracken breiteten sich lebensbedrohliche Krankheiten aus. Die Behausungen waren illegal, so dass die Polizei ständig anrückte, um die Elendsquartiere zu räumen. Die Menschen protestierten gegen ihre Lebensbedingungen mit Aufständen und Straßenschlachten.
Barackenbau hinter den Fabriken
Die Bevölkerung wuchs trotzdem immer weiter an. In einer Generation stieg die Bevölkerungszahl um 8 Millionen auf 43 Millionen Menschen. Wenn einer gegen schlechte Arbeitsbedingungen protestierte, stand sofort der nächste bereit, der ihn ersetzte. Der einzelne und seine Not zählte nichts.
Leben in der Mietskaserne
Unter dem Druck der steigenden Wohnungsnot entwickelten Bauunternehmer neue Wohnkonzepte: Sie stampften riesige Mietskasernen aus dem Boden. Die hohen Häuser standen sehr eng zusammen, um auf kleinster Fläche möglichst viele Menschen beherbergen zu können. Durch den Entstand war es in den Wohnungen sehr dunkel. Die einzelnen Wohnungen waren sehr klein. Nicht selten lebte eine fünfköpfige Familie in einem einzigen kleinen Zimmer ohne Fenster. In diesem Zimmer wurde geschlafen, gekocht und gegessen. Die Einrichtung bestand meist aus einem Tisch, Stühlen, einem Schrank, einem Herd und zwei Betten - eins für die Eltern, eins für die Kinder. Am schlimmsten hatte man es getroffen, wenn man in einer feuchten Kellerwohnung leben musste.
Es gab kein fließendes Wasser. Meist gab es im Hinterhof oder im Treppenhaus eine Toilette für alle Hausbewohner. Es kam aber auch vor, dass volle Nachttöpfe einfach aus dem Fenster auf die Straße gekippt wurden - wie im Mittelalter. Demzufolge roch es in den Städten nach Kot und Urin. Bei starkem Regen floss das Abwasser durch die ganze Stadt und sickerte ins Grundwasser. Das verseuchte Trinkwasser führte dann zu Typhus- und Cholera-Ausbrüchen.
Schlafgänger
Doch wegen der geringen Löhne konnten viele Arbeiter auch diese schäbigen Wohnungen nicht bezahlen. Sie suchten nach zusätzlichen Einnahmequellen. Bei einem 16-Stunden-Tag konnten sie natürlich keine zweite Arbeit annehmen. Viele Familien entschieden sich, eine Schlafstätte zu vermieten - an einen sogenannten "Schlafgänger", also einen Arbeiter, der nur ein Bett für die Nacht brauchte. Dadurch wurde es in den kleinen Zimmern noch voller und es blieb für die Familienmitglieder noch weniger Privatsphäre. Doch nur durch das zusätzliche Geld für die Vermietung der Schlafstätte konnten viele Familien ihre Miete bezahlen und der Zwangsräumung entgehen.
Berliner Gassen...
Aufgaben
Finde zuerst einen treffenden Begriff für Problem 4.
a) Gründe für die Wohnungsnot:
Warum kam es in den Städten zu Wohnungsnot?
b) Überbevölkerung:
Lies die Quelle: Ab wann galt um 1900 eine Wohnung als "überbevölkert" und wie viele überbevölkerte Wohnungen gab es in Berlin?
c) Leben in Holzbaracken:
Erkläre die Wohnsituation in Holzbaracken.
d) Leben in Mietskasernen:
Was war eine Mietskaserne und wie wohnte man darin?
e) Schlafgänger:
Was war ein "Schlafgänger"?
f) Quellenanalyse
Lies den Text "Berlin 1835":
- Wer hat die Quelle verfasst?
- Wann wurde die Quelle verfasst?
- Auf welche Zeit bezieht sich die Quelle?
- Was erfährst du über das Abwassersystem in Berlin? Schreibe möglichst viele Stichpunkte.