Wieder zuhause

 

Odysseus war endlich zuhause. Er konnte es selbst nicht glauben. Zwanzig Jahre war es her, dass er mit den anderen griechischen Königen zum großen Trojanischen Krieg aufbrach. Zehn Jahre dauerte die Belagerung, dann kann es zum großen Kampf.

Odysseus hatte schließlich die rettende Idee mit dem Trojanischen Pferd. Er saß selbst mit einigen anderen Kriegern im Bauch des riesigen Holzpferdes und erlebte den Sieg über Troja hautnah mit.


Doch als sie Troja dann wirklich besiegt hatten, gingen die griechischen Helden allzu grausam mit den Besiegten um. Die Götter des Olymp beobachteten das und wurden sehr wütend.

Sie hielten Rat und beschlossen, die Helden von Troja für ihr furchtbares Verhalten grausam zu bestrafen. 

  • Der Beschluss lautete, dass fast alle griechischen Kämpfer bei der Heimreise im Meer  ertrinken. 
  • Nur Odysseus sollte überhaupt wieder in Griechenland ankommen. Dafür setzte sich Athene ein, die ihn als ihren besonderen Schützling betrachtete. 

 

Doch ganz ohne Strafe sollte auch Odysseus nicht davonkommen. Auf Beschluss des Rates der Götter sollte auch seine Heimreise besonders schwer werden. Ganze zehn Jahre sollte er auf dem Meer herumirren und viele Prüfungen bestehen.

 

Oft hing Odysseus‘ Leben in dieser Zeit an einem seidenen Faden. Und das Leid, was Odysseus mit ansehen musste… 

  • Er sah, wie sechs seiner Seemänner vom Kyklopen aufgefressen wurden. 
  • Er sah, wie seine Seemänner zu Schweinen verwandelt wurden. 
  • Er sah, wie böse Riesen Felsbrocken von der Steilküste einer Insel auf seine Schiffe warfen, so dass die Schiffe zerstört wurden und mit den Seeleuten untergingen. 
  • Seine letzten beiden Seemänner verlor Odysseus, weil sie den Klängen der Sirenen nicht widerstehen konnten.
  • Poseidon schickte immer wieder Unwetter und schwere Stürme auf das Meer, damit Odysseus' Leute in den Fluten versinken.

Am Ende war er allein noch übrig geblieben. Und so stand er jetzt an einem Felsvorsprung an der steinigen Küste Ithakas. Er war zurück in seinem Königreich. Obwohl … War es noch sein Königreich? Nach zwanzig Jahren Abwesenheit erkannte ihn sicher keiner mehr als König an. Ob ihn seine Ehefrau Penelope überhaupt noch liebte? Ob sein Sohn Telemachos in als Vater anerkannte? Er hatte Telemachos zuletzt als Säugling auf dem Arm gehabt. 

 

Konnte Odysseus einfach in seinen Königspalast zurückkehren? Irgendwie hatte er dabei ein schlechtes Gefühl. Er beschloss, sich erst einmal als Bettler zu verkleiden und sich in dieser Verkleidung auf Ithaka umzuschauen. 

In abgewetzter Bettlerkleidung, mit schleppenden Gang und gebückter Körperhaltung, klopfte Odysseus an der Tür seines ehemaligen Freundes, dem Schweinehirten Eumaios.

Zuerst ging er beim Schweinehirten Eumaios vorbei, der früher für Odysseus gearbeitet hatte. Eumaios nahm den „Bettler“ auf und ließ sich geduldig ausfragen, was auf Ithaka gerade so los sei. 

Eumaios klagte. Im Königspalast lungerten hunderte Freier herum, die um die Hand der schönen Königin Penelope anhielten. Eumaios musste jeden Tag fünfzig Schweine liefern, um die Hofgesellschaft zu ernähren. Das ginge schon viele Jahre so. Bis jetzt weigerte sich Penelope, Odysseus für tot zu erklären und einen neuen Mann anzunehmen. Odysseus wusste nun, dass es nicht einfach werden würde, in seinen Königspalast zurückzukehren.

 

Durch Zufall schaute an diesem Abend Telemachos, Odysseus Sohn, bei Eumaios vorbei. Telemachos hatte mal wieder auf dem Meer nach seinem Vater gesucht und wollte mit Eumaios darüber sprechen. Odysseus bemühte sich, sich vor Telemachos nicht zu erkennen zu geben. Doch als Telemachos das Wort „Vater“ aussprach, war es vorbei mit Odysseus‘ Selbstbeherrschung. Er konnte seine Bettler-Rolle nicht weiterspielen. Er stand von seinem Hocker auf, schüttelte seine Schwäche ab, wurde breiter und größer, ging auf Telemachos zu und wollte ihn nur noch in die Arme schließen. „Liebster Sohn!“, sagte er unter Tränen, „Du vermisst deinen Vater? Du suchst überall deinen Vater? Nun, er steht vor dir! Ich bin es, Odysseus.“

Telemachos war sofort bis ins Mark getroffen und zweifelte nicht eine Sekunde an der Aussage des fremden Mannes. Er legte den Kopf auf die Schultern des Vaters und weinte bitterlich.

Nachdem alle drei ihr Wiedersehen gefeiert hatten, überlegten sie gemeinsam, wie Odysseus seinen Königsstuhl zurückerobern könnte.

 

Ein Bettler im Königspalast

 

Würde er sich als Odysseus zu erkennen geben, würden ihn die Freier, die am Hofe herumlungerten, gemeinsam töten. Deshalb wäre es besser, erst einmal in der Bettler-Verkleidung dort vorbeizuschauen, um die Lage zu erkunden. Telemachos sollte sich zeitgleich in den Palast begeben. Vater und Sohn konnten sich in unbeobachteten Momenten über das weitere Vorgehen abstimmen. Der Plan war, im richtigen Moment den Kampf zu beginnen und alle Freier vom Hof zu jagen. Einfach würde es nicht werden – zu zweit würden sie gegen über hundert Männer kämpfen. 

 

Alles lief wie geplant. Nachdem Odysseus sich umgesehen hatte und erstaunt war, wer sich alles um seine Penelope bemühte, besprach er sich heimlich mit Telemachos. Kurz darauf trat Telemachos vor die Freier im Festsaal: 

 

„Liebe Anwesende, ich habe euch etwas mitzuteilen. Ich kehrte vorhin zurück von meiner Erkundungsreise auf dem östlichen Mittelmeer. Leider habe ich erfahren, dass mein Vater bei einem Unwetter auf See ums Leben gekommen ist. Es gibt keine Zweifel. Ich konnte sein Grab besuchen und ihm die letzte Ehre erweisen. Wie dem auch sei, nun ist es an der Zeit, unserem Königreich Ithaka einen neuen König zu geben. Ihr alle kämpft nun schon viele Monate um die Gunst meiner Mutter. Ihr seid alle adligen Blutes, seid tapfere und mutige Krieger und seid alle gleichermaßen gut geeignet als König von Ithaka. Kein Wunder, dass meine Mutter sich nicht entscheiden kann.“ 

 

Telemachos konnte selbst kaum glauben, was er da sagte. In Wirklichkeit hasste er die eingebildeten Typen, die sich seiner Mutter an den Hals warfen und ständig mit ihren Vorzügen angeben wollten. Er hatte so viele Heldengeschichten über seinen Vater gehört – keiner dieser Freier war auch nur halb so mutig und stark wie sein er. Telemachos drehte sich zu Odysseus um, der immer noch als Bettler verkleidet war. Der nickte ihm aufmunternd zu. Also redete Telamachos weiter:

„Nun, um der ewigen Werberei um meine Mutter ein Ende zu setzen, haben wir folgendes beschlossen. Wie ihr wisst, war mein Vater der allerbeste Bogenschütze unter der Sonne. Ihr versteht sicher, dass auch der neue König von Ithaka ein guter Bogenschütze sein soll. Deshalb werdet ihr in einem Pfeil-und Bogen-Wettkampf gegeneinander antreten. Der Gewinner möge meine Mutter bekommen und ist der neue König von Ithaka!“

Ein Gemurmel ging durch den Festsaal. Jeder einzelne hielt sich für den besten Bogenschützen und sah keine Schwierigkeiten, den Wettstreit zu gewinnen. Alle begaben sich auf den Hof. Dort war mit brennenden Fackeln eine schmale Gasse abgesteckt. In dieser Gasse waren zwölf Streitäxte hintereinander aufgestellt. Aus den Streitäxten waren die Klingen entfernt worden, so dass in jedem Griff ein Axtring sichtbar war. Die Aufgabe war nun, den Pfeil durch alle Axtringe zu schießen. Eine unmögliche Aufgabe! Empörtes Gemurmel füllte den Hof. Doch es war zu spät – die Freier hatten dem Wettkampf längst zugestimmt.

Penelope holte den großen Bogen des Odysseus aus ihrem Schlafgemach. Als die Freier den Bogen sahen, verfielen sie in Schockstarre. Der Bogen war größer als sie selbst. Er war aus blank poliertem Holz gefertigt. Die Spitzen waren mit goldenem Draht umwickelt. Die Pfeile steckten in einem Köcher aus Stierhaut. Die Pfeilschäfte bestanden aus poliertem Eschenholz, die Pfeilspitzen waren aus Kupfer. Die Enden waren mit Falkenfedern bestückt. Die Sehne war nur an einem Bogenende befestigt und musste noch werden.

Telemachos, der den korrekten Ablauf des Wettkampfes überwachen sollte, bat zuerst den Fürsten von Samos nach vorn. Unter den Augen aller Konkurrenten zeite sich dieser unfähig, die Sehne einzuspannen. Er war nicht stark genug, den Bogen richtig festzuhalten. Griff er nach der lockeren Sehne, fiel der Bogen jedes Mal um. Nach drei gescheiterten Versuchen gab der Fürst von Samos auf. 

 

Der Wettkampf beginnt

Einer nach dem anderen trat nun vor, keiner schaffte es, die Sehne einzuspannen. Antinoos bemängelte, der Bogen sei nicht geschmeidig genug, schließlich sei er seit zwanzig Jahren nicht mehr benutzt worden. Er verlange, dass der Bogen mit Talg eingerieben wird und zum Weichwerden ans Feuer gestellt wird. Telemach tat, was Antinoos verlangt hatte. Den mit Talg eingeriebenen und am Feuer weich gewordenen Bogen übergab er dann Antinoos. Antinoos schaffte es nicht, die Sehne einzuspannen. Und so scheiterten alle Freier an der Aufgabe und blamierten sich vor der Königin, die den Wettkampf am Fenster verfolgte. Nur Eurymachos hatte sich noch nicht am Bogen versucht. Er trat vor und rief: „Begreift ihr nicht, dass wir hier hereingelegt werden? Diese Aufgabe ist nicht zu schaffen. List und Tücke der Penelope nehmen kein Ende! Seit Jahren hält sie uns zum Narren. Sie wird keinen von uns je zum Mann nehmen – einer von uns muss sie mit Gewalt nehmen!“ Unter den Freiern entstand ein riesiger Tumult. Die ganze Wut über das Scheitern am Bogen richtete sich nun auf Telemachos. Aufgebracht umringten ihn die Freier und hoben ihre Fäuste.

„Halt!“ rief der als Bettler verkleidete Odysseus. Die Freier drehten sich erstaunt zu ihm um. „Ich bitte euch, ihr Herren, lasst es mich versuchen!“ Antinoos ging mit dem Schwert auf Odysseus zu. Telemachos warnte: „Meine Mutter sieht vom Fenster ihres Schlafgemaches aus zu. Soll sie euch als Feiglinge sehen, die einen Bettler nicht versuchen lassen, was sie selbst nicht geschafft haben?“

„Lasst ihn doch versuchen.“ rief Euramachos. „Und wenn es es nicht schafft, und er wird es nicht schaffen, hacken wir ihm Arme und Schultergelenke ab. Damit er sich nie wieder mit Männern messen kann, die ihm weit überlegen sind!“

„Tretet zurück!“, rief Eurymachos. „Lasst ihn versuchen.



Nur einer kann es

Odysseus nahm den Bogen in die Hand… Mühelos und fast zärtlich drehte er ihn in seinen Händen, wie ein Sänger, der seine Lyra dreht. Dann nahm er eine Sehne und spannte sie ohne große Anstrengung ein. Die Freier schauten zu und waren zwischen Erstaunen und Wut hin- und hergerissen. Der Bogen war nun gespannt. Eine Sekunde stand Odysseus still, visierte sein Ziel an, dann kniff er die Augen zusammen und ließ seinen Pfeil lossausen. Die Sehne schwirrte, der Pfeil flog durch alle zwölf Axtringe. Alle Freier starrten den Bettler fassungslos an. Dieser richtete sich auf, warf den Kopf in den Nacken und rief in den Himmel: „Ich danke dir, Apollon, Gott des silbernen Bogens, für deine Unterstützung in diesem Wettkampf. Also haben jetzt alle Prüfungen ein Ende. Ich bin gekommen, um meinen Besitz zurückzufordern.“ Nun erkannten als Freier, wen sie vor sich hatten. Alkinoos rief: „Odysseus!“ Schon wurde der erste Pfeil auf den Helden abgeschossen. Doch Odysseus hatte einen Brustharnisch angelegt, an dem die Pfeile nun abprallten. Nun begann ein wilder Kampf. Odysseus und Telemachos hatten alle Hände voll zu tun, sich vor den Pfeilen zu schützen, die auf sie einprasselten. Durch gute Taktik und Absprache schafften sie es, Freier für Freier abzuschießen. Aus den toten Männern bauten sie einen Schutzwall, hinter dem sie sich abducken konnten. Nach einer Stunde war das Unglaubliche geschafft: Odysseus und Telemachos waren die einzigen Überlebenden des Kampfes. Penelope hatte alles mit angesehen. Zögerlich ging sie nun auf ihren heimgekehrten Ehemann zu. Doch in dem verwahrlosten, blutverschmierten Bettler konnte sie den strahlenden Helden nicht mehr wieder erkennen, den sie einst geheiratet hatte. Sie sagte: „So sehr ich mich freuen möchte und so sehr ich deine tapfere Leistung bewundere… Ich kann dich nicht als meinen Odysseus erkennen.“ Odysseus antwortete: „Ich verstehe das gut. Wie konnte ich dich so lange alleinlassen? Mein schlechtes Gewissen ist grenzenlos. Ich bin so froh, dass ich gerade noch rechtzeitig kam, um die Freier abzuwehren. Wie kann ich dir beweisen, dass ich dein Mann bin?“ Penelope flehte: „Gib mir ein Zeichen.“ Odysseus überlegte kurz, dann sprach er: „Ich kann dir beschreiben, wie unser Bett im Schlafgemach aussieht. Ich habe es direkt nach der Hochzeit mit meinen eigenen Händen gebaut. Ein riesiger, knorriger Olivenbaum ragte ins Zimmer. Ich bog den Baum zurecht, legte einige Äste zu Balken um und formte aus dem Stamm eine Liegefläche.“ Penelopes Gesicht hellte sich auf. Kein anderer Mann hatte seit Odysseus Abwesenheit ihr Schlafgemach betreten. Kein anderer Mann außer ihm konnte wissen, wie ihr Bett aussah. Das war der Beweis, den sie gebraucht hatte. Überglücklich schlang sie die Arme um den heimgekehrten Ehemann. Er war glücklich, wieder aufgenommen zu werden und versprach, sie nie wieder allein zu lassen.