"Aus Angst lügen wir dann alle"
Wie das Familienleben wirklich war
Erika Mann, die Tochter des berühmten Schriftstellers Thomas Mann, gehörte vor 1933 zu den Menschen, die die Nationalsozialisten offen kritisiert haben. Nach der Machtergreifung flüchtete sie ins Ausland, um einer Verhaftung zu entgehen. Aus dem Exil beobachtete sie die Entwicklung des Deutschen Reiches und besonders der Erziehungs- und Bildungspolitik. Ihre Erkenntnisse fasste sie im Buch "Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich." zusammen. Dieses Buch erschien erstmals im Jahr 1938 und gibt heute, auch wenn es die subjektive Sicht der Autorin widerspiegelt, wertvolle Einblicke.
Die Zerstörung der Familie
„Eine Anekdote aus dem neuen Deutschland, die sich mit diesem Thema befaßt, entspricht durchaus der Nazi-Wirklichkeit, obwohl sie scherzhaft klingt: Der Vater kommt heim, findet niemanden zuhause. Ein Zettel liegt auf dem Tisch: „Bin im NS-Frauenbund. Komme spät zurück. Mutter.“
Da legt er seinerseits einen Zettel hin: „Gehe auf die Parteiversammlung. Es wird spät werden. Vater.“
Als nächster kommt Fritz, der Sohn. Er hinterläßt einen Zettel: „Haben Nachtübung, wird bis morgen dauern. Fritz.“
Hilda, die Tochter, ist die letzte. Sie schreibt auf: „Muß auf Nachtversammlung des BDM. Hilda.“
Als die kleine Familie sich gegen zwei Uhr morgens zusammenfindet, sind Diebe dagewesen und haben alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest war, - die Wohnung ist kahl und leer. Auf dem Tisch aber liegt ein fünfter Zettel: „Daß wir hier stehlen konnten, danken wir unserm Führer. Heil Hitler! Die Diebe. (...)
Die Zerstörung der Familie ist kein Nebenprodukt der Nazi-Diktatur, - sie stellt die Bewältigung einer Aufgabe dar, welche das Regime sich stellen musste, wenn es sein Ziel erreichen wollte; und dieses Ziel ist die Eroberung der Welt durch die Nazis. (...)
Und so hat man den Deutschen zunächst die Zeit genommen, die sie ihrer Familie zu widmen pflegen, und hat diese Zeit dem Nazi-Staat zur Verfügung gestellt. Bloßer Zeitmangel aber hätte nicht genügt, um das deutsche Familienleben von Grund auf zu zerstören. Es bedurfte giftigerer Mittel, Mittel psychischer, seelischer Natur. Die Zersetzung der Familie begann erst mit dem Augenblick, in dem das Mißtrauen innerhalb der Familie groß geworden war. Erst als der Vater anfing, der Mutter zu mißtrauen, die Mutter der Tochter, die Tochter dem Sohn, der Sohn dem Vater, war die Familie wirklich gefährdet. Da wagte keiner mehr, sich dem anderen mitzuteilen; da jedes Wort hinterbracht, jede Geste mißverstanden und verraten werden konnte, war die Familie sinnlos, das Leben in ihr qualvoll geworden. Die Liebe zum Führer, die Treue gegen den Staat ist plötzlich oberstes Gebot, und eifersüchtig wachen die Nazis über seiner Erfüllung. Nicht mehr sind Privatwohnung und Familienhaus wichtigster Aufenthalt der Familienmitglieder. Wichtigster Aufenthalt sind Versammlungsraum und Parteilokal. Dort spielt sich ab, was entscheidend ist, - „daheim“ gibt es nur noch nebenher. Wer sein „daheim“ zu ernst nimmt, wer zu viel Zeit dort hinbringt, wer sich als „Familienmensch“ fühlt mehr denn als „Nationalsozialist“, dessen Situation ist outsiderisch und gefährdet.“
Angst und Misstrauen
„Das Kind aber sieht sich hin- und hergerissen zwischen den Instanzen, denen sein Leben überantwortet ist, - der Schule und der Hitlerjugend auf der einen und der Familie auf der andern Seite. Er spürt, wie diese Instanzen um sein Seelchen kämpfen, hört, wie die Lehrer (heimlich) murren, wenn die Hitlerjugend gar zu zeitraubend geworden, sieht, wie die Eltern (heimlich) die Stirn runzeln, wenn für zuhaus die Zeit nicht mehr reicht. Es merkt aber auch, dass sie alle Angst haben, ja daß die Angst Beweggrund ist für das meiste im Leben. (…)
Und es denkt das Kind: ich weiß es ja selber: ich habe keine Angst vor den Schießübungen, obwohl doch schon viel Unglück passiert ist dabei. Wenn wir aber zuhause die Rede von Goebbels im Radio nicht mit angehört haben, dann habe ich die schrecklichste Angst. Ich habe Angst, der Lehrer könnte dahinterkommen am nächsten Morgen, und ich könnte bestraft werden; der Lehrer könnte meine Eltern anzeigen, mein Vater könnte seine Stellung verlieren und aus der Partei gestoßen werden, was das Schlimmste wäre. Ich habe die schrecklichste Angst. Und ebenso geht es meinen Eltern. Deshalb hören wir ja auch die meisten Reden von Goebbels an, und wenn wir sie einmal nicht angehört haben, dann lügen wir, - ich in der Schule, der Vater in der Fachschaft und die Mama auf dem Markt. Aus Angst lügen wir dann alle.
So denkt das Kind, und es weiß, daß alle Menschen in Deutschland Angst haben, obwohl das deutsche Volk „heldisch“ ist. Am meisten Angst aber haben vielleicht die Eltern, - alle Eltern, das spürt das Kind, denn sie werden verantwortlich gemacht für ihr Kind, und haben doch längst allen Einfluß verloren.“
Bloß keine Gefühle zeigen
„Das Familienleben also ist nicht mehr „gemütlich“ (Zeitmangel aller Beteiligten, - Mangel an Vertrauen!). Das Familienleben ist der Zärtlichkeit beraubt, und der schützenden Fürsorge des einen für den andern, der Eltern vor allem für das Kind. (...)
Ist das Kind ein Knabe und schon beim „Jungvolk“ der „Hitlerjugend“, wehrt es sich mit aller Härte gegen die liebende Zärtlichkeit der Mutter. Nichts fürchtet es mehr als das Gefühl, sein eigenes Gefühl, das ihn manchmal heißt, der lieben Mutter um den Hals zu fallen und zu weinen wenn er abends nach Hause kommt und alles tut weh vom Marschieren, die Füße und der Rücken, und alles ist starr von Staub und Schweiß, und seine Hand blutet, und er ist doch erst zehn Jahre alt. (…) Er hat gelernt: „Muttersöhnchen faulenzen, wenn sie müde sind und auch sonst, Muttersöhnchen heulen, wenn sie ein Schlag trifft. Muttersöhnchen laufen nach Hause, wenn es draußen regnet oder stürmt. Muttersöhnchen kennen weder Nachtmarsch noch Kriegsspiel, bringen es nie fertig, müde von Arbeit und Beruf zu sein und dennoch Dienst zu tun. Muttersöhnchen kennen nicht die Rauheit der Wälder und die Steine der Berge, kennen nicht die staubigen Landstraßen und das Leben der Zeltlager; Muttersöhnchen maunzen auf weichen Kissen und schlafen unter seidenen Decken. Jungvolkjungen sind hart.“ („Morgen“, Zeitschrift des Jungvolks)
Ein Muttersöhnchen heißen, das wäre das Schlimmste für das Kind. Also beißt es die Zähne zusammen und, da die Mutter ihm doch einen Kuß geben möchte, ehe es schlafen geht, wendet es sich ab, wobei es männlich die Stirn runzelt. Dieser Kuß, so spürt es, wäre imstande, mich um meine mühsam bewahrte Fassung zu bringen. Ich würde zärtlich und sanft werden unter diesem Kuß, ich würde vielleicht sogar weinen. – Also humpelt der kleine Soldat eilends in sein Zimmer, während die Mutter ihm ratlos nachschaut.“
Die Mutter, das schlafende Kind betrachtend
„Sie geht hinüber in sein Zimmer, die Mutter, um zu sehen, ob er schläft. Da liegt er, flach auf dem Rücken, Stiefel und Hosen hat er auf den Boden geworfen, das braune Hemd klebt ihm noch am Leibe. Gewaschen hat er sich nicht, - die Handtücher, die sie ihm zurechtgelegt hat, sind unberührt. Er schläft mit offenem Mund, und eine Strähne seines blonden Haares, das staubfarben aussieht, fällt ihm steif in die Stirn. Um die Hand hat er ein Taschentuch gewunden, etwas Blut sickert nach außen.
Dieser da gehört nicht mir, weiß die Mutter, - er gehört dem Staat, der ihn in den Krieg schicken wird, sobald er groß ist, dem Staat, der ihn mir jetzt schon entfremdet und weggenommen hat, der ihn marschieren und schießen läßt und der ihn gelehrt hat, daß die Treue zum Staat über alles geht, - auch über die Liebe zu mir. Die Mutter steht mitten im Zimmer und wartet, daß etwas geschehe. Das Söhnchen könnte sich etwas bewegen im Schlaf, es könnte nach ihr rufen oder doch etwas murmeln, irgendetwas Freundliches, aus dem hervorginge, daß es ihrer gedächte in seinen Träumen, - aber nichts geschieht. Der Junge schläft, wie ein Stein, er rührt sich nicht, man könnte meinen, er liegt in Ohnmacht. „Überanstrengt hat man ihn wieder“, flüstert die Mutter, und sie weiß, daß der Hausarzt in aller Vorsicht und in der diplomatischen Art von den Gewaltmärschen gewarnt hat für ihren Jungen. „Er ist nicht der kräftigste“, - weiß sie, - „man wird ihn mir noch zu Grunde richten.“
Das Kinderzimmer
„Sie schaut sich im Zimmer um und schüttelt ein wenig den Kopf, wobei sie betrübt lacht. Ist dies das Spielzimmer eines Zehnjährigen? Wo sind die Spielsachen, wo die Indianerausrüstung, der Zauberkasten, das Pferderennspiel? Wo sind die Bücher ihrer eigenen Kindheit, all die bunten Geschichten von Abenteurern, Märchenprinzen und verwunschenen Tieren? Sie tritt vor das kleine Bücherregal und liest die Titel der Werke, die ihr Sohn liest, falls man ihm zum Lesen Zeit läßt, und die man ihm vorliest während der langen „Kameradschaftsabende“.
„Fliegerhorst im Erlenbusch“, liest sie, - „Aus dem Leben der jungen deutschen Luftwaffe“, - „Die Infanterie marschiert“, - „Das Kolonialheft der deutschen Jugend“, - „Peter, der Soldatenjunge“, - „Das Soldatentum der Schwester Kläre“.
Sie selbst hat ihm diese Bücher schenken müssen, sie erinnert sich wohl, und gelegentlich hat sie ihn gefragt, ob er sie denn gerne läse. „Natürlich“, hat er geantwortet und sie fremd und böse angeschaut, - „natürlich, - was soll ich denn sonst lesen?“
Was soll er schließlich sonst lesen?, seufzt die Mutter, - und sie betrachtet sich die „Spielsachen“, die hier herumliegen und -stehen: mehrere Landkarten, eine Büste des Führers, ein scharfgeschliffener Dolch, ein kleiner Revolver, der gefährlich aussieht und es wahrscheinlich auch ist, - ein paar Zinnsoldaten, - eine Gasmaske. Die Gasmasken sind kürzlich erst verteilt worden an die Kinder (…).
Sie steht noch immer mitten im Zimmer, die Mutter, und mag sich nicht trennen vom Anblick ihres reglos schlafenden Söhnchens. Was für Kinder, - denkt sie, - was für seltsame Kinder. Dieser war fünf, als es anfing, mit Hitler, er kennt nichts als die Hitler-Welt, die uns seither umgibt. Lebt er gerne so? Aber diese Kinder wissen nicht, daß man auch anders leben kann!? Sie spielen nicht, - sie verstehen gar nicht, was spielen ist. All ihre Phantasie und Einbildungskraft sucht man nutzbar zu machen, nutzbar dem einen Ziel: der Eroberung der Welt durch die Nazis…“
Kindergeburtstag
Erika Mann schildert, wie der 12. Geburtstag eines Jungen ablaufen könnte: „Die Eltern (…) versuchen, das Kind in ein kindliches Privatleben zurückzuholen. Sie geben eine Geburtstagsgesellschaft, kaufen zivile Geschenke, - einen Malkasten, ein Geduldspiel, ein silberig glitzerndes Fahrrad. Sie zünden Kerzen an auf der Geburtstagstorte, - 12 Kerzen, denn der Sohn wird 12 Jahre alt, - und nun freuen sie sich auf das festliche Durcheinander, das alsbald beginnen wird, wenn die Gäste da sind, - auf den Trubel und die lustige Unordnung. In Wirklichkeit verläuft das kleine Fest wie eine politische Konferenz. Sechs Jungen waren eingeladen, fünf sind jetzt zur Stelle. Der Sohn des Hauses ist unruhig und herabgestimmt. „Wer fehlt noch?“ fragt die Mutter und der Junge antwortet: „Siehst du denn nicht, wer fehlt? Er fehlt. – Fritzekarl!“ „Wie schade“, sagt die Mutter, - „gerade Fritzekarl“, und sie weiß, daß Fritzekarl, zwei Jahre älter als ihr Junge, dessen Führer und Vorgesetzter im „Jungvolk“ ist. Seine Anwesenheit auf diesem Fest ist von größter Bedeutung, kommt er nicht, so ist das ein Zeichen seiner Ungnade, und die Stimmung wird verdorben sein.“
„Sie sind alle in ihrer Hitlerjugend-Uniform, ob aus Enthusiasmus für diese Verkleidung oder aus Angst, sich in Zivil bei Fritzekarl mißliebig zu machen, fragt sich die Mutter. Es klingelt, und der Sohn des Hauses stürzt zur Tür. Man hört seine helle Stimme „Heil Hitler“ rufen, und eine andere, schon gebrochene, „Heil Hitler“ antworten. Die fünf am Gabentisch fahren herum, wie kommandiert. In zusammengenommener Haltung, ganz ernst die Gesichter, erwarten sie ihren Vorgesetzten, dem sie mit emporgeworfenen Armen den „deutschen Gruß“ erweisen. Fritzekarl überreicht dem Geburtstagskind eine gerahmte Photographie des „Reichsjugendführers“ Baldur von Schirach mit faksimilierter Unterschrift. Der Beschenkte schlägt die Absätze zusammen, während er die Gabe in Empfang nimmt. „Ich möchte deinen Vater sprechen“, sagt Fritzekarl kurz. Da ihr Sohn nicht gleich antwortet, sagt die Mutter freundlich: „Mein Mann ist im Augenblick nicht zu sprechen, - er arbeitet. „Fritzekarl runzelt die Kinderstirn. „Es wäre mir lieb“, sagt er, und sucht seiner gebrochenen Knabenstimme den militärischen Befehlston zu geben, - er wäre mir lieb, gnädige Frau, wenn der Herr Gemahl trotzdem einen Augenblick zu sprechen wäre, - im Interesse ihres Sohnes.“ Wie korrekt und höflich er ist, dieser Fritzekarl, bei aller Herrischkeit – er verbeugt sich sogar leicht gegen die Mutter während seiner drohenden kleinen Ansprache. „Vierzehn Jahre“, denkt die Mutter, „ein Vierzehnjähriger, aber hinter ihm steht die Macht.“ Der Sohn tut einen Schritt auf die Mutter zu, - er ist ganz rot geworden und sagt: „So ruf ihn doch!“ Da geht die Mutter, um den Vater zu rufen. Der Vater erscheint. „Heil Hitler“, ruft Fritzekarl, - „Heil Hitler“, sagt der Vater, - „womit kann ich dienen, Herr Leutnant?“ Aber scherzen darf man mit Fritzekarl nicht. „Bitte“, sagt er und blickt martialisch aus seinem Kindergesicht, - „bitte, - Ihr Sohn hat an unserer letzten Übung nicht teilgenommen.“ „Ich weiß“, unterbricht hier der Vater, - „er war erkältet.“ „Er hat auf Ihre Veranlassung nicht teilgenommen“, sagt Fritzekarl, und seine Stimme überschlägt sich, - „Sie haben mir da einen Entschuldigungswisch geschickt, in dem es heißt, daß er auf ihren Wunsch zuhause bleibt.“ Der Vater blickt zu Boden. „Es ist in der Tat mein Wunsch, daß er zuhause bleibt, wenn er so sehr erkältet ist“, sagt der Vater und tritt von einem Fuß auf den andern, wie ein Kind, das gescholten wird. Hier greift der Sohn ein. „Ich war gar nicht so sehr erkältet“, sagt er, die Hand auf der Lenkstange des Fahrrades, das der Vater für ihn erkämpft hat. „Ich hätte ganz gut gehen können.“ Der Blick, mit dem der Vater ihn nun umfängt, enthält Schmerz und Verwunderung, aber auch schon viel Resignation. „Na“, sagt er nur und will aus dem Zimmer. Aber Fritzekarl hält ihn zurück. „Einen Augenblick“, sagt er höflich und gebieterisch. „Ihr Sohn war an diesem Tag in der Schule und am nächsten ebenfalls. Er war also nicht krank. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß er hätte kommen müssen und daß es mein Recht ist, ja meine Pflicht wäre, sein Fernbleiben zu melden!“ Statt des Vaters antwortet da der Sohn. „Oh bitte“, sagt er schnell, - „bitte nicht! Es soll nie wieder vorkommen, - nicht wahr, Vater, es wird nie wieder vorkommen!“ Der Vater, dessen Gesicht jetzt rot ist vor Verlegenheit und Zorn, spürt den verzweifelten Blick seiner Gattin auf sich ruhen. Er möchte sich auflehnen. „Du Lausbub“, möchte er sagen, „du grüner Junge, - was nimmst du dir heraus?!“ Aber er weiß, dies würde die unangenehmsten Folgen haben für ihn selber und, vor allem, für seinen Sohn. Denn selbst wenn es ihm gelänge, sich bei den Nazistellen zu verantworten, wenn er nachwiese, daß der Junge wirklich sehr erkältet gewesen und Fritzekarl frech geworden sei, und wenn er sich also persönlich ohne sichtbaren Schaden aus der Affäre zöge, - der Junge würde schrecklich zu leiden haben im Jungvolk, - er würde es schließlich ausbaden müssen, wenn er, der Vater, sich jetzt ein offenes Wort gönnte; - auf seine, des Jungen Kosten würde er jetzt „mutig“ sein. Und so versichert er denn stockend und steif in die Stille hinein: „Nein, es wird gewiß nicht wieder vorkommen.“
„Ich danke“, erwidert ihm höflich der vierzehnjährige Vorgesetzte seines verräterischen Söhnchens. Dann ist der Vater entlassen.
Seinem Unwillen über die Begegnung mit Fritzekarl kann er nirgends Luft machen. Überall sind Lauscher und Spitzel zu gewärtigen, - unter den Kollegen, am Stammtisch, im eigenen Hause. Die Frau erzählt alles dem Sohn, - nicht aus Tücke, bewahre, - nur aus Torheit und weil sie den Jungen zurückgewinnen möchte, da er ihr doch ganz zu entgleiten droht. Besonders zu fürchten ist das neue Dienstmädchen. Der Vater weiß, daß sie an der Tür horcht, daß sie alle Briefe und Tagebücher liest, die man irgend herumliegen läßt, und daß sie einen Flirt mit dem Blockwart unterhält. Der Blockwart aber kann die Familie vernichten, und der Junge, der gewiß den Vater nicht anzeigen würde (im Grunde ist er gutartig, denkt dieser), braucht nur dem Dienstmädchen etwas zu erzählen, irgend ein paar Äußerungen, die irgendwann gefallen, das Mädchen läuft zum Blockwart, dieser läuft zur Gestapo, und alles geht weiter seinen schrecklichen Gang. Entschlösse man sich aber gar, das Mädchen zu entlassen, dann wäre ihre Rache zu fürchten, und alles wäre doppelt im Argen.
Nichts hilft als Vorsicht und die größte Verschlossenheit. Vorsichtig und verschlossen sind Väter, Mütter und Kinder im Dritten Reich. Meist leben sie nebeneinander her, wie Fremde, oder wie Feinde.“
Aufgaben:
1. Wie sah es mit dem Vertrauen innerhalb der Familie im nationalsozialistischen Deutschland aus?
2. Welches Familienmitglied ist am ehesten von der Nazi-Propaganda zu überzeugen und warum?
3. Ein zum Beispiel 11-jähriger Junge führte im Nationalsozialismus das Leben eines kleinen Soldaten. Zeichne einen kleinen Jungen und um ihn herum alle Einflussfaktoren, die auf ihn einwirken (Personen, Institutionen, Verhaltensregeln, Erwartungen, Beschäftigungen, Spielzeuge, Lesestoffe...)